minimalraum
 minimalraum

MASSLOSIGKEIT/VÖLLEREI

LINA RUSKE und MASSIMO MILANO
5. Mai 2012 bis 3. Juli 2012

Zügellos, hemmungslos und grenzenlos einverleibend – so wird in der Geschichte der Kunst häufig die Völlerei oder auch Masslosigkeit dargestellt. Und wer kennt sie nicht, die sich selbst verschlingenden Wesen aus der Hand eines Hieronymus Bosch oder Pieter Bruegel und die in vielerlei Hinsicht masslosen Gestalten eines Hans Sebald Beham. An den Pranger gestellt wurden zur damaligen Zeit insbesondere übermässiges Essen, sexuelle Begierden und ausgeprägte Selbstliebe, was als Undankbarkeit gegenüber dem Schöpfer galt. Dabei gehörte eine Form von Völlerei durchaus zum Alltag, da man in Zeiten von Ernte oder Schlachtfest durchaus der Masslosigkeit frönen musste, um derart gestärkt die kargen Zeiten überstehen zu können. In der heutigen Zeit, in der zumindest in unserem Kulturkreis, das Essen erschwinglich und permanent vorhanden ist, haben sich Lina Ruske und Massimo Milano in einen Dialog über Völlerei, Masslosigkeit, Anmassung, Suchtspirale, kulturelle Prägungen, Vorstellungswelten und gesellschaftliche Konventionen begeben. Für beide war wichtig, nicht den anklagenden Finger gegen andere zu erheben und beispielsweise mit heutigen Formen sozialer Ungerechtigkeit zu arbeiten. Vielmehr kreisten sie um die Fragen, wann der Punkt erreicht ist, an dem man selbst masslos ist, in welchen Situationen sie zur Völlerei neigen und aus welcher Motivation heraus Masslosigkeit Raum gewinnt. Entstanden sind zwei Arbeiten auf Papier, nämlich aus der Hand von Lina Ruske eine analoge Fotografie und aus der von Massimo Milano eine Graphitstiftzeichnung, die nicht nur ihre jeweilige Antwort darauf auf eindrückliche Weise wiedergeben, sondern die darüber hinaus die sonst vielfach vernachlässigte emotionale Tiefe dieses Themas offen legen.

Lina Ruske(*1987 Berlin, lebt und arbeitet in Zürich und Berlin) studierte an der Fachhochschule Potsdam und der Zürcher Hochschule der Künste Fotografie. Sie arbeitet mit analoger Schwarzweiss- und insbesondere Farbfotografie und setzt in Ausstellungen sehr oft Schriftskizzen mit ihren fotografischen Arbeiten in Beziehung. Ihr Œuvre umfasst ein vielschichtiges Konvolut. Neben Stillleben lotet sie immer wieder das Thema des Porträts aus, worunter sowohl das des Menschen als auch das einer Stadt, einer Wohnung oder einer Situation zu verstehen ist. Faszinierend ist die stete Weiterentwicklung ihrer ganz eigenen poetisch-mystischen Bildsprache. Ihre Arbeiten sind bei internationalen Solo- und Gruppenausstellungen zu sehen; ebenso erhielt sie bereits 2005 ihren ersten Fotopreis für junge Fotografie, ist in mehreren Publikationen vertreten und hat im letzten Jahr ihr erstes Fotobuch publiziert. Mehr siehe www.linaruske.de

Massimo Milano (*1968 in Süditalien, lebt und arbeitet in Rapperswil und Zürich) absolvierte eine Ausbildung als Hochbauzeichner und an der Schule für Gestaltung in St. Gallen den Vorkurs. Seit 1994 arbeitet er als freischaffender Illustrator, gründete 2006 den Raum62 in Rapperswil und stellt seit 2010 im zweimonatigen Turnus in dem von ihm gepachteten minimalraum in Rapperswil aus. Als Künstler nähert er sich primär mit dem Medium der Zeichnung, aber auch mit Installationen und Video seinen Themen, die er aus der Beobachtung und Auseinandersetzung mit dem Menschen in seiner Umwelt generiert. Darin haben zwielichtige Gestalten ebenso Platz, wie Strich gewordene Hoffnungen, ängste und Tabus. Grossformatiges entsteht mit minutiösem Strich, Einheitsfassaden, Gesichtslose, Gepeinigte und Andersartige verweisen auf gesellschaftliche Rahmen und Zwänge, während hier und dort scheinbar ganz Banales durch seine Arbeit unsere Aufmerksamkeit erhält. Seine Arbeiten sind auf internationalen Ausstellungen zu sehen, er erhielt mehrere Preise und Stipendien.



Künstlerstatement

minimalraum

Lina Ruske, Selbst in Korsett, Zürich 2012 (analoger C-Print, 61,5 x 78,7 cm)

Die Arbeit zeigt ein Selbstpotrait für das ich das orthopädische Korsett nochmals angelegt habe, das ich zuletzt mit 17 Jahren, zuvor fünf Jahre lang tragen musste.
Damals diente es der medizinischen Behandlung meiner Skoliose, einer Wirbelsäulenverkrümmung, die während des Wachstums in ihrer voranschreitenden Ausprägung eingeschränkt werden sollte. Damals entwickelte sich mein bewusstes Körpergefühl. Damals lernte ich die ständige Selbstkontrolle.

Für die fotografische Arbeit wird das Korsett zum Symbol massloser Selbstkontrolle. Ich thematisiere die übertriebene Perfektionierung des eigenen (weiblichen) Körpers, werde damit zur Projektionsfläche, bleibe dennoch ich.
Es geht um den Druck von Innen und von Aussen, um Schönheitsideale, um das Schönsein, das Frausein. Ich will die schmale Grenze zwischen Selbstliebe und Selbstsucht aufzeigen, bei der es am Ende bis zur masslosen Selbstkontrolle, zur Selbstzerstörung kommen kann.
Das Korsett symbolisiert zudem einen gesellschaftlichen (und auch selbstgemachten) Druck, immer und sofort funktionieren zu müssen, zu passen.
Es geht um innere Kämpfe, die über den eigenen Körper als letztes komplett kontrollierbares Objekt ausgetragen werden. Wenn die Sehnsucht nach Sicherheit so gross ist, dass man glaubt, sie durch Kontrolle zu erlangen.

Für die Präsentation im minimalraum, der sich an einer öffentlichen Hauptstrasse befindet, habe ich die Geschlechtsmerkmale durch die Applikation zweier Streifen abgedeckt. Die eigentliche Arbeit besteht als solche, als pure Fotografie, wird aber hier "zensiert", da sich der Betrachter nicht aussuchen kann, ob er das Werk sehen will, oder nicht.
Die Frage, wie Kunst gezeigt werden kann, soll angesprochen, die Diskussion zum Unterschied zwischen White Cube und öffentlichem Raum angeregt werden. Bedingt Kunst ein geschultes Publikum?
Es geht um Rücksichtnahme, nicht aber um blosse, banale Provokation. Es soll keine Diskussion über Nacktheit aufkommen, es geht um weit mehr.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der sich mit dem Medium Fotografie auseinandersetzt: bei den Streifen handelt es sich ebenfalls um belichtetes Fotopapier, das durch die Filterung seinen hautfarbenen Ton erhält. So mache ich sichtbar, dass es sich genauso bei dem vorliegenden Bild um eben jenes optisch-chemische Produkt der Fototechnik handelt, das eine eindimensionale Fläche, eine Behauptung, künstlerisches Ausdrucksmittel ist. Nicht mehr, auf keiner Fall aber weniger.



Eindrücke der zweiten Vernissage von projzwei zum Thema MASSLOSIGKEIT/VÖLLEREI vor dem minimalraum in Rapperswil.